Über die Verletzlichkeit
- jana-welsch
- 9. Okt.
- 3 Min. Lesezeit

Ich konnte es schon früher nicht ganz einordnen.
Warum mich diese perfekt inszenierten Familienfotos nie wirklich berührt haben.
Du weißt schon...diese typischen amerikanischen Bilder, auf denen alle barfuß am Strand entlang rennen. Mama, Papa, zwei Kinder, der Hund – alle lachen in die Kamera, das Licht glüht, die Farben sind abgestimmt.
Ein Foto, das aussieht wie ein Versprechen: Hier ist alles gut. Wir sind glücklich. Wir haben’s geschafft.
Und ich verstehe das.
Ehrlich! Auch von mir gibt es solche Bilder.
Momente, in denen ich und mein Kind in die Kamera lachen, das Licht weich ist, alles irgendwie stimmig scheint.
Für wen eigentlich?
Das „perfekte Familienbild“.
Wir kennen es alle. Vielleicht hängt es bei Freund*innen an der Wand, vielleicht in unserem eigenen Wohnzimmer.
Und jedes Mal denke ich: Es ist schön, aber für mich erzählt es nichts.
Für wen machen wir solche Bilder?
Für die Oma, für Social Media, für uns selbst?
Für diesen kurzen Moment, in dem wir glauben: So sollte Familie aussehen. So müsste ich mich fühlen.
Um kurz zu glauben, dass das Chaos, die Müdigkeit, die Zweifel, die Tränen…nur eine Randnotiz sind?
Diese inszenierten Fotos haben etwas Beruhigendes.
Weil Perfektion Ordnung verspricht: Kontrolle. Es fühlt sich sicher an.
Ein schönes Bild fühlt sich an wie ein Pflaster über all den Momenten, in denen wir uns nicht genug fühlen.
Aber irgendwann habe ich gemerkt:
Diese Bilder erzählen nicht, wie es war.
Sie erzählen, wie wir gesehen werden wollen.
Wenn Echtheit Angst macht
Echtheit fühlt sich manchmal an, als würde man die Decke ein Stück zu weit zurückziehen.
Als würde man sich zeigen, bevor man sicher ist, dass es jemand aushält.
Es ist so menschlich, dass uns das Angst macht.
Weil Verletzlichkeit uns zeigt, wie nah alles beieinander liegt:
Liebe und Erschöpfung. Freude und Zweifel.
Weil sie sichtbar macht, dass wir keine Rollen spielen können, wenn wir echt sind.
Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – ist da so viel Kraft.
Weil genau dort, wo wir uns zeigen, Verbindung entsteht.
Wenn ein Blick alles sagt
Ich denke an dieses eine Bild, das ich mal gemacht habe:
Der Papa steht mitten im Wohnzimmer, die Haare noch ein bisschen zerzaust, weil er mit dem ersten Schrei des Neugeborenen aus dem Schlaf gerissen wurde.
Halb verschlafen, das Baby gerade ins Tragetuch gewickelt. Wir kennen doch alle dieses anfängliche Gehudel: das vorsichtige Justieren, das kleine Fluchen, weil das Tuch irgendwie immer rutscht, die Augen zwischendurch nach unten zum Baby, um sicherzugehen, dass alles stimmt. Alles sitzt endlich richtig, das Tragetuch sicher gebunden, das Baby eingebettet, bereit für den ersten Spaziergang des Tages. Da steht er auf einmal mit dem Blick auf den Neuankömmling gerichtet.
Dieser Blick: ganz ruhig, weich, voller Liebe und Müdigkeit zugleich.
Ein Blick der sagt: Du gehörst jetzt zu uns. Ich passe auf dich auf.
Ich erinnere mich auch noch gut an meine ersten dokumentarischen Reportagen und an das Gefühl, das mich überrollte, als ich die Bilder sah.
Da war kein Lächeln auf Abruf, kein idealer Moment.
Da war ich: müde, ein bisschen zerbrechlich, aber echt.
Und ich dachte: Oh. So sehe ich also aus, wenn ich denke, dass niemand hinschaut.
Und weißt du was?
Da war plötzlich Ruhe.
Weil diese Bilder mich nicht verurteilen.
Sie halten fest, dass ich Mensch bin.
Verletzlichkeit ist kein Risiko – sie ist Verbindung
Ich glaube, wir alle wünschen uns, gesehen zu werden – nicht für das, was wir darstellen, sondern für das, was wir sind.
Wir sehnen uns nach Fotos, in denen wir uns wiederfinden könne.
Aber das braucht Mut.
Mut, nicht perfekt zu wirken.
Mut, die Kontrolle abzugeben.
Mut, einfach zu sein.
Und vielleicht ist das genau das Geschenk, das diese Art von Fotografie macht:
Sie erinnert uns daran, dass Schönheit nicht im Lächeln liegt,
sondern in dem Dazwischen.
In der Geste.
In der Wahrheit.
Verletzlichkeit ist kein Bruch in der Fassade.
Sie ist das Licht, das durch sie hindurchscheint.
Und genau dort – in diesem stillen, ehrlichen Zwischenraum –
entstehen für mich die Bilder, die wirklich berühren.




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